Autor Thema: Der Fall Kerry Sanders (2)  (Gelesen 2085 mal)

Joe Cool

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Der Fall Kerry Sanders (2)
« am: 08. Aug. 2012, 11:26:40 »
Der Verteidiger ging nicht einmal den einfachsten Fragen nach. Er verbrachte allenfalls ein paar Minuten mit seinem hilflosen Klienten, und er forschte nicht nach, ob Kerry eine Familie hatte, die er bei seiner Verteidigung hätte um Hilfe bitten können.
Der Verteidiger versäumte es auch, das System nach irgendwelchen anhängigen Fällen, früheren Akten oder dem finanziellen Status seines Klienten zu durchforsten. Er nahm sich nicht mal die Zeit, die Personenbeschreibung des Steckbriefs mit Kerrys Aussehen zu vergleichen, geschweige denn einen Vergleich der Fingerabdrücke oder der Fahndungsfotos zu verlangen. Na und, sagen Sie? Schließlich waren doch beide Männer schwarz; sie waren beide gleich alt – sie hatten sogar beide das gleiche Geburtsdatum! Langt das etwa immer noch nicht?

Es kommt noch schlimmer. In einer Verhandlung verzichtete Kerry Sanders auf sein Recht, gegen die Auslieferung nach New York Widerspruch einzulegen. Ein Beamter forderte ihn auf, ein Schriftstück zu unterzeichnen. Der Text lautete: „Ich, Robert Sanders, bestätige hiermit ohne Zwang und aus freien Stücken, dass ich mit dem vorbezeichneten Robert Sanders identisch bin.“ Der Angeklagte unterschrieb jedoch mit „Kerry Sanders“
Dann kritzelte er ein Duplikat des Schriftstücks mit vielen kleinen Männchen voll.

Leuchtete da nicht ein rotes Licht auf? Läuteten da keine Alarmglocken? Nicht bei diesem Pflichtverteidiger!
Als man Kerry endlich die Chance gab, seine Sache vor einem Richter zu vertreten, wurde er von diesem gefragt, ob er das Dokument vor der Unterzeichnung gelesen habe. Als er das verneinte, stoppte der Richter das Auslieferungsverfahren.
„Haben Sie das unterschrieben?“ fragte ihn dann der Richter.
Kerry antwortete: „Yeah.“
„Warum haben sie das unterschrieben?“
Kerry Sanders Antwort: „Weil die mir gesagt haben, ich soll das unterschreiben.“
Der Richter wies Kerrys Pflichtverteidiger an, das Dokument noch einmal mit seinem Klienten durchzugehen. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann war der Richter zufrieden, und Gericht und Verteidiger konnten sich dem nächsten Fall zuwenden.
Nachdem Kerry Sanders von seinem von L.A. gestellten Pflichtverteidiger verraten und verkauft worden war, beförderte man ihn quer übers Land ins Hochsicherheitsgefängnis von Green Haven, 60 Meilen nördlich von New York City, wo er die nächsten zwei Jahre verbrachte. Dort wurde er von Mithäftlingen sexuell missbraucht.

Als im Oktober 1995 FBI-Agenten den wirklichen Robert Sanders in Cleveland verhafteten, durfte Kerry Sanders wieder zu seiner Mutter Mary Sanders Lee zurückkehren. Wäre Robert Sanders nicht zufällig verhaftet worden, säße Kerry Sanders heute noch im Gefängnis.
Man schickte Kerry von Green Haven nach Hause mit genau 48 Dollar und 13 Cent und einer Plastiktüte, in der ein paar Tabletten, eine Flasche Sodawasser und eine Schachtel Zigarretten waren. Er erzählte seiner Schwester Roberta: „Die haben mich nach New York gebracht. Dort war’s saukalt. Dann haben sie mich in diesen kleinen Raum gesteckt.“*

*Auszug aus „Stupid White Men“, von Michael Moore, Verlag Piper, München 2001