Autor Thema: Lebensweg in drei Stationen: Nowosibirsk – Altai – Hannover  (Gelesen 4516 mal)

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Vladimir in der WTM-Holzwerkstatt.


Nowosibirsk – Altai – Hannover

Drei Stationen im Leben von Vladimir. Vladimir ist einer von 7 Milliarden
Menschen auf dieser Erde. Das sind 7 Milliarden ganz eigene Biografien.
Von den allermeisten Menschen wird man nie etwas lesen oder hören. Da
ist eine persönlich erzählte Lebensgeschichte immer noch etwas ganz
Besonderes. Und diese eine Geschichte steht nicht nur für sich alleine, sie
steht für das kaleidoskopische Leben all der anderen Menschen – auch,
wenn viele Geschichten in dieser Welt von Schmerz und Trauer zeugen.
Vladimir habe ich an seiner bisher letzten Station getroffen. In Hannover.
Er ist dort beim Werkstatt-Treff Mecklenheide e.V. (WTM) in der
Holzwerkstatt beschäftigt.


Nowosibirsk ist ein ferner Ort. Gefühlt ferner als New York oder sogar Rio de Janeiro. Kein
Sehnsuchtsort, jedenfalls nicht für die meisten. Vladimir sieht das anders, er wurde dort
geboren. Das war vor über 60 Jahren. Er ist Sohn von Wolgadeutschen. Und tatsächlich,
wer nach Nowosibirsk, immerhin die drittgrößte Stadt in Russland, und kulturelles und
wissenschaftliches Zentrum in der Region, ganz weit in den Osten Russlands reisen möchte,
noch weit jenseits des Ural-Gebirges, der braucht viel Zeit. Es gibt Flüge, die dauern ab
Deutschland mit Zwischenstopps 35 Stunden. Für eine Strecke. Es geht auch schneller, aber
das sind die Ausnahmen. Wer es sich leisten kann und möchte, der fährt mit dem Zug: der
Transsibirischen Eisenbahn.

„Sibirische Kälte“. „Ostwind“. So sagen wir, wenn es im Winter in Mitteleuropa besonders
kalt ist. Dabei gibt es in Sibirien auch gemäßigte Zonen. „Nowosibirsk“, da ist sich Vladimir
sicher, das kennt man in Deutschland. Vielleicht sagt er das, weil er denkt, dass die vielen
Spätaussiedler aus Russland den Namen in das Gedächtnis der Deutschen getragen haben.
Viele Wolgadeutsche sind während des II. Weltkriegs von Stalin nach Sibirien verbannt
worden. So auch Vladimirs Vorfahren. Und so sind die Geschichten seines Großvaters aus
jener tiefdunklen Zeit keine schönen Geschichten. Doch dazu später mehr.

Wie aus einer anderen Welt

Vladimir ist noch in Nowosibirsk aufgewachsen, dann aber irgendwann in die heutige Republik
Altai gezogen. Das ist noch etwas weiter weg. Topologisch zwischen Kasachstan und der
Mongolei gelegen, ist das Klima dort mindestens genauso extrem. Geomorphologisch ist die
Region spektakulär: Sie wird durchzogen von der bis zu 4.500 m hohen Altai-Gebirgskette.
Im Altai hat Vladimir zuerst mehrere Jahre als Lastwagenfahrer gearbeitet. Er mache aber
alles, bemerkt er dazu. Schließlich sei er „Traktorist“ geworden. „Alle Traktoren“: Dazu zeigt
er mit seinen Armen und Händen kleine und große Gebilde und nennt eine enorm große Zahl
für das Gewicht einer Zugmaschine: „16 Tonnen“. Ich denke an die legendären Kirovets „K700“.
Äußerst robuste Technik und gewaltige Zugleistung. So ganz typisch sowjetisch. Das ist eine
Größenordnung, die man bestenfalls in den größten Landwirtschaftsbetrieben in Osten
Deutschlands, den ehemaligen VEBs, finden könnte.

Raffinierte Lebensmittel zehren an der Gesundheit

Das ist alles lange her. Vladimir lebt jetzt schon viele Jahre in Deutschland. Er sagt, er sei der
letzte seiner Familie gewesen, der nach Deutschland gekommen wäre. Er erzählt, dass er früher
sehr gesund gewesen sei. Seit er hier in Deutschland ist, mache ihm seine Gesundheit sehr zu
schaffen. Er meint, dass das an den vielen raffinierten Lebensmitteln liege, die es hier in den
Supermärkten zu kaufen gebe. Dazu weist er auf die immer „ellenlangen“ Zutatenlisten hin. In
Russland hingegen waren viele landwirtschaftlichen Produkte weitgehend unverarbeitet gewesen.
Sein Gewicht sei ein Problem, lächelt er. Dabei kneift er leicht seine leuchtenden Augen zusammen
und dehnt seinen Mund zu einem warmen Lächeln. Mit einer Hand reibt er sich, nicht ohne eine
gewisse Zufriedenheit, möchte man meinen, über seinen sichtbar ausladenden Bauch. Er zählt
noch einige weitere medizinische Fachbegriffe auf und ich kann mir gut vorstellen, dass es Momente
gibt, in denen er sich, trotz allem, nicht so gut fühlt. Sein Motto ist dann: „Es muss halt."

Muttersprache

Was (Selbst-) Vertrauen bewirken kann, lässt sich an Vladimir gut beobachten. Wir haben in letzter
Zeit häufiger miteinander gesprochen. Vor ein paar Wochen habe ich mich noch gefragt, wie er in
seinem deutschen Alltag zurechtkommt, so schwierig war sein Deutsch für mich zu verstehen.
Mittlerweile würde ich so weit gehen, zu sagen, dass Vladimir fließend Deutsch spricht. Was
eigentlich auch nicht verwunderlich ist, denn in seiner Kindheit, so berichtet er, habe man zu
Hause fast nur Deutsch gesprochen. Soviel, sagt er, dass er, als er zur Schule gekommen war, in
der ersten Klasse richtig Schwierigkeiten mit dem Russischen gehabt habe.
 
Extremes Klima, extreme Herausforderungen

Die Winter im Altai sind erbarmungslos kalt: - 30 °C, - 40 °C und manchmal auch „- 50 °C“.
Das schafft Probleme, die weit über das hinausgehen, was man als MitteleuropäerIn allgemein
mit dem Leben und im Besonderen mit Landwirtschaft – was sowieso schon ein hartes Metier ist,
in der Vorstellung verbindet. Vladimir macht das anschaulich: „Wir hatten vorne an den Traktoren
Gabeln mit armdicken Zinken aus Stahl. Damit haben wir die Futterballen für die Tiere bewegt.
Wenn es sehr kalt wurde und du hast die Gabel, während sie schon im Futterballen steckte,
angewinkelt, dann sind die Zinken abgebrochen.“ Ich dachte zuerst, ich habe ihn nicht richtig
verstanden. Aber kein Zweifel, Vladimir hat es für mich nochmal wiederholt. Wer vom Fach ist,
weiß, dass Kälte Stahl spröde (Kaltversprödung) macht und dass er dann dazu neigt leicht zu
brechen. Die Reparatur der Traktorgabel dauerte dann jedes Mal fast einen Tag lang.

Die Natur lässt sich nicht austricksen

Vladimir war als Vorgesetzter verantwortlich für viele Dutzend Arbeiter. Gemeinsam haben sie
8.000 Hektar Land bewirtschaftet. Ich staune. Das sind 80.000.000 m² oder 80 km². „Ich musste
meine Leute in der Saatzeit immer sehr antreiben“, erinnert er sich. Sie hätten da nur ein relativ
kleines Zeitfenster gehabt, meint er. Und wer die Region kennt oder sich die Klimakarten dazu
anschaut, dem fällt es nicht schwer sich vorzustellen, dass die Natur da keinen allzu großen
Spielraum zulässt. „Die Saatzeit hat immer am 25. April begonnen und bis zum 1. Juni musste
alles in der Erde sein.“ Man merkt, wie sehr ihn die Erinnerung an diese Vergangenheit noch
bewegt. Er simuliert mit seiner rechten Hand und ausgestrecktem Zeigefinger einen Schnitt:
„Nach dem 1. Juni ist Schluss. Wenn du etwas am 3. Juni einsäst, wird das nichts mehr.“ Dass
daraus aber was wird, davon hängt alles ab: Lebensmittel, Tierfutter, Handel, Gemeinschaft,
Beruf. Das Überleben. Alles.

Hier in Deutschland darf Vladimir vermutlich noch zwei Jahre arbeiten, dann „muss“ er in Rente.
„Ich mache solange, wie ich kommen soll“, sagt er und fügt hinzu, „wenn die mich nicht mehr
wollen, ist Schluss.“ Dazu macht er eine sparsame Wegwerfbewegung mit der linken Hand. Man
merkt, dass ihm der Gedanke nicht behagt. „Ich arbeite gerne“, sagt er. „Was soll ich zu Hause
rumsitzen.“ Das mache er schon an den Wochenenden. Er beschreibt das so: „Die Tage gehe ich
kaum raus. Ich sitze zu Hause und das ist gar nicht gut.“

Endlich: viel frische Luft und Musik

Zum Glück hat sein Sohn, der im Altai geboren wurde, jetzt aber auch in Hannover lebt, inzwischen
einen Garten. „Darum kümmere ich mich. Der hat dafür keine Zeit, weil er so viel arbeitet.“ Man
merkt Vladimir an, dass er sich über seine neuen Aufgaben freut. Er sei nun viel an der frischen
Luft, hätte was zu tun und höre dabei viel Musik. Früher hat er alles gehört nur keine Klassische
Musik. Heute hört er die am liebsten. Er zieht sein Smartphone aus der Tasche seiner Arbeitshose
und spielt mir ein Lied in französischer Sprache mit einem Orchester vor. Französisch mag er sehr
gerne. Das Lied selber ist aber ursprünglich ein russisches Lied, sagt Vladimir. Er sagt auch, sein
Vater sei sehr musikalisch gewesen, der konnte alles spielen: Geige, Gitarre, Akkordeon und auch
Trompete. Er selber liebe Musik, spiele aber kein Instrument.

Zehn Jahre Lagerhaft

„Zu Kriegszeiten wurden Deutschstämmige oft denunziert“, erzählt Vladimir. „Dazu brauchte es nicht
viel.“ Die Vorwürfe hätten nicht Mal wahr sein müssen, ergänzt er. Selbst für Kleinigkeiten habe es
schnell Lagerhaft gegeben. „In Sibirien, mit harter Arbeit und immer gleich zehn Jahre.“ Viele hätten
das nicht überlebt, berichtet er weiter. Wer da krank geworden ist, der hätte nicht unbedingt mit Hilfe
rechnen können. Es gab zwar eine Krankenstation, aber wohl eher für die leichten Fälle. Menschen,
denen es nicht schnell wieder besser ging hat man an Armen und Beinen gepackt, nach draußen
getragen und in ein Loch gelegt. Damit sie da nicht wieder rauskrabbeln konnten, hat man sie mit
einem großen Stein beschwert. „Das“, sagt Vladimir, „hat man mit den verbannten Wolgadeutschen
gemacht.“ So jedenfalls habe ihm sein Großvater das erzählt. Als die Geschichte aus jener Zeit zu
Ende erzählt war, richtet Vladimir seinen Blick entschlossen geradeaus und ruft: „nie wieder Krieg“.


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